Laura Zwack, Karina Lott (RELX Group)
Durch das Inkrafttreten des Krankenhausstrukturgesetzes stehen immer mehr Kliniken vor der Herausforderung, die gesetzlich geforderte medizinische Qualität im klinischen Alltag auch umzusetzen. Gleichzeitig stellt es für Ärzte eine immer größere Herausforderung dar, sämtliche aktuellen Leitlinien mit den geltenden Standards zur Diagnostik und Therapie der verschiedenen Krankheitsbilder im Kopf zu haben. In der Medizin ist das Wissen in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Galt 1950 noch, dass sich das Wissen nach 50 Jahren verdoppelt, so waren es 2010 bereits nur noch 3,5 Jahre. 2050 wird sich das Wissen dann voraussichtlich nach nur 73 Tagen verdoppelt haben. Und noch etwas bringt der Fortschritt mit sich: Es stehen immer mehr Daten über einen Patienten zur Verfügung, die es richtig auszuwerten und einzuschätzen gilt.
Um in der Hektik des modernen Klinikbetriebs und angesichts der zunehmenden Fülle an Informationen den Überblick zu behalten, setzen einige Kliniken in Deutschland bereits auf die Unterstützung von Clinical Decision Support-Systemen, die Ärzten dabei helfen, die richtigen Untersuchungen und Therapien anzuordnen und dabei gleichzeitig auch eine Art Kontrollfunktion übernehmen sollen, damit kein wichtiger Schritt vergessen geht.
Entscheidungsrelevante Informationen im klinischen Prozess bereitstellen
Unter Clinical Decision Support versteht man Verfahren zur Verbesserung klinischer Entscheidungen durch die Bereitstellung von evidenzbasierten medizinischen Informationen zum Zeitpunkt des Arzt-Patientenkontaktes bzw. zum Zeitpunkt der Behandlungsentscheidung. Dabei kann es sich um allgemeines klinisches Wissen handeln oder um Entscheidungshilfen, die patientenindividuelle Daten berücksichtigen oder um eine Mischung aus beidem. Einigkeit besteht bei Anwendern darüber, dass eine kritische fachliche Einschätzung des Falles nicht durch IT-Systeme ersetzt werden kann. Demgegenüber werden jedoch die Chancen gesehen, z. B. durch die stärkere Integration von Leitlinien und wissenschaflicher Evidenz in den klinischen Entscheidungsprozessen unnötige oder sogar schädliche medizinische Leistungen zu verringern. Nicht zuletzt wird in digitalen Systemen zur Entscheidungsunterstützung die Möglichkeit gesehen, die stetig wachsende Anzahl der medizinischen Publikationen und Forschungsergebnisse in die klinische Praxis zu transferieren.
Beispiele für Elektronische Expertensysteme zur Unterstützung klinischer Entscheidungen sind:
- Fallspezifische Verlinkung von Fachinformationen, z. B. auf evidenzbasierte Leitlinien, systematische Reviews und andere zuverlässige Quellen aus dem Klinikinformationssystem heraus
- Leitlinien- und evidenzbasierte Anordnungssets, d. h. Auswahllisten von ärztlichen Anordnungen für spezifische Diagnosen und Prozeduren im Klinikinformationssystem
- Individualisierte Handlungsempfehlungen sowie Warn- und Erinnerungsfunktionen durch automatische Verknüpfung dokumentierter Patientendaten mit Leitlinienempfehlungen im Klinikinformationssystem
Deutschland noch im Rückstand
Ein Grund, warum sich Clinical Decision Support-Systeme in Deutschland im internationalen Vergleich erst langsam etablieren, ist die immer noch wenig fortgeschrittene Digitalisierung der Krankenhäuser. Ein internationales Benchmarking zum Grad der Einführung der Elektronischen Patientenakte in Krankenhäusern zeigt, dass deutsche Krankenhäuser im Durchschnitt nur einen EMRAM1-Score von 1,6 erreichen. In vielen Fällen werden Patientenakten noch immer allein in analoger Form geführt, was eine elektronische Auswertung praktisch unmöglich macht. Dabei sind in verschiedenen Kliniken durchaus vielversprechende digitale Einzelprojekte zu beobachten. Oftmals fehlt es jedoch an einer umfassenden Digitalstrategie, die eine weitergehende Nutzung digitaler Lösungen und damit ein tatsächliches Ausschöpfen von deren Potenzial ermöglichen würde.
Vorreiter aus Frankfurt
Das Universitätsklinikum Frankfurt nimmt mit einem EMRAM-Score von 5 eine Vorreiterrolle in Deutschland ein. Am Universitätsklinikum Frankfurt ist über alle Abteilungen ein Klinikinformationssystem mit einer Elektronischen Patientenakte installiert. Alle Daten aus den verschiedenen klinischen Quellen im Krankenhaus – aber auch von externen Quellen – werden normalisiert2 erfasst. Zudem gibt es eine IT-gestützte klinische Dokumentation, und ärztliche und pflegerische Anordnungen werden elektronisch erstellt. Eine Bildmanagementlösung ersetzt alle filmbasierten Bilder. Insbesondere der Einsatz von Clinical Decision Support-Lösungen zur Sicherung einer optimalen Behandlungspraxis wird systematisch erprobt.
Seit 2015 pilotiert das Universitätsklinikum u. a. mit dem Wissenschaftsverlag Elsevier die digitale Unterstützung medizinischer Entscheidungen mit Hilfe von sogenannten Anordnungssets. Anordnungssets sind vorgefertigte Auswahllisten von Anordnungen für eine spezifische Diagnose oder Prozedur. Sie werden im Vorhinein definiert und reflektieren den aktuellen Stand der Leitlinien und Evidenz. Anordnungssets werden ins Klinikinformationssystem (KIS) integriert, um bei spezifischen Erkrankungen einen leitlinienbasierten, standardisierten Behandlungskorridor vorzuschlagen – unmittelbar integriert in den Arbeitsablauf. Ein Anordnungsset umfasst dabei alle Anordnungen, die für die jeweilige Diagnose oder Prozedur vom Arzt gemacht werden müssen, in einem Formular. Es deckt von den Anordnungen an die Pflege über Arzneimittelverordnungen bis zu den Leistungsanforderungen verschiedene Bereiche ab, die bislang alle in unterschiedlichen Modulen im KIS zu finden waren. Kurze Hinweise zu den Anordnungen, die in weniger als 10 Sekunden lesbar sind, können Warnungen oder Erinnerungen enthalten, etwas zu tun oder nicht zu tun oder Anordnungen hervorheben, die das Ergebnis verbessern können. Über Info-Buttons sind Entscheidungshilfen aufrufbar. Lesbar in weniger als 90 Sekunden, enthalten sie praktische Informationen, die dabei helfen, die richtige Anordnung auszuwählen. Über Hyperlinks in den Entscheidungshilfen sind die Quellen aus Leitlinien, systematischen Reviews und randomisierten kontrollierten Studien zu erreichen. Anordnungssets dienen damit der Qualitätssicherung und der Patientensicherheit.
Die Ergebnisse des Pilotprojektes zeigen eine Reduktion der mittleren Verweildauer in der entsprechenden Diagnosengruppe des DRG-Systems von 8,53 Tagen im Vergleichszeitraum des 1. Quartals 2015 auf 8,05 im Beobachtungszeitraum des 1. Quartals 2016. Neben einer Beschleunigung der unmittelbaren Entscheidungsprozesse durch die Integration von medizinischen Inhalten in den Arbeitsprozess ist sicher auch die generelle Sensibilisierung für stringente Entscheidungswege unter anderem im Rahmen der Einführung von Anordnungssets hierfür verantwortlich. Auch der Zeitbedarf für das elektronische Anordnen konnte durch den Einsatz von Anordnungssets reduziert werden. Im Rahmen einer vergleichenden Zeitmessung wurde eine Beschleunigung des Anordnungsprozesses um 42 Sekunden pro Patient festgestellt – von 6,1 Minuten pro Patientenfall ohne Anordnungsset auf durchschnittlich 5,4 Minuten pro Fall mit Anordnungsset. Umfragen unter den anordnenden Ärzten zeigen auch eine Verbesserung der inhaltlichen Unterstützung des Anordnungsprozesses durch Anordnungssets.
Das Projekt wurde zudem 2015 und 2016 jeweils im Rahmen der Entscheiderfabrik – einer Initiative der Gesellschaft für Unternehmensführung und IT-Service-Management in der Gesundheitswirtschaft (GuiG) und des Verbandes der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD) – als eines der fünf Top-IT-Themen im Gesundheitswesen in Deutschland ausgewählt. Seitdem pilotieren weitere Kliniken diese Clinical Decision Support-Lösung.
Ausblick: Clinical Decision Support Systeme und Big Data
Auch wenn Clinical Decision Support Systeme bereits seit einiger Zeit in verschiedenen Formen im klinischen Alltag im Einsatz sind, ist ihr Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. Eine erhebliche Erweiterung ihrer Einsatzbereiche und ihres möglichen Beitrags zu einer verbesserten Versorgung ist durch die Einbeziehung von Big-Data-Analysen zu erwarten. Dies eröffnet die Möglichkeit, individuelle Merkmale von Patienten mit Informationen aus der elektronischen Patientenakte, aber auch allgemeinen Informationen (z. B. Leitlinien) zusammen zu analysieren und dadurch umfassendere und vielfältigere Muster abgleichen zu können. Dies kann auch dazu beitragen, eine personalisiertere Versorgung zu ermöglichen.
Allerdings ist nicht nur die bislang noch nicht vollständige Digitalisierung der Krankenhäuser Grund dafür, dass es in diesem Bereich noch erhebliches Entwicklungspotenzial gibt. Daneben gibt es auch ganz konkrete Herausforderungen, die mit der Nutzung von Big Data-Anwendungen im Rahmen von Clinical Decision Support-Systemen einhergehen. Eine ganz entscheidende Voraussetzung für die sachgerechte Nutzung derartiger Systeme ist eine ausreichend hohe Datenqualität. Bislang werden relevante Gesundheitsdaten regelmäßig noch nicht für die Nutzung im Rahmen von Clinical Decision Support-Systemen erhoben, so dass mit Daten gearbeitet werden muss, die ursprünglich zu einem anderen Zweck erhoben wurden. Das bedeutet unter anderem, dass diese Daten in unterschiedlichen Formaten vorliegen, die Datenqualität zwischen einzelnen Datensätzen teilweise erheblich schwanken kann, Datensätze mitunter nicht vollständig sind, aber auch, dass die Daten nicht immer so genau sind, wie es erforderlich wäre. Besonders deutlich wird diese Herausforderung, wenn Daten aus unterschiedlichen Quellen kombiniert werden sollen. Hier wird es darum gehen, durch eine stärkere Standardisierung der Daten, z. B. hinsichtlich ihrer Quellen oder ihrer Kodierung, eine bessere Vergleichbarkeit und Strukturiertheit zu ermöglichen. Dabei ist dies ein Prozess, der langfristig international erfolgen sollte, um der zunehmenden Vernetzung der Gesundheitssysteme Rechnung zu tragen.
Bei der Nutzung von Big Data Anwendungen im Rahmen von Clinical Decision Support Systemen muss zudem berücksichtigt werden, dass an die Erhebung und Verwendung von Gesundheitsdaten hohe Anforderungen gestellt werden. Dies gilt umso mehr, wenn Daten aus unterschiedlichen Quellen miteinander kombiniert werden sollen. Von besonderer Bedeutung wird daher in Zukunft die Frage werden, wie das Potenzial von Big Data Anwendungen im Gesundheitsbereich genutzt und gleichzeitigt ein hoher Datenschutz sichergestellt werden kann. Big Data Anwendungen zeichnen sich ja oftmals gerade dadurch aus, dass im Vorfeld nicht immer genau vorhergesagt werden kann, welche Daten bei der Auswertung von Interesse sein werden. Bei der entsprechenden Analyse geht es regelmäßig gerade darum, neue Muster zu erkennen und bislang unbekannte Beziehungen zu identifizieren. Hier wird es daher insbesondere darum gehen, sachgerechte technische Möglichkeiten zu nutzen, um für die erforderliche Datensicherheit Sorge zu tragen.
- Das Electronic Medical Record Adoption Model (EMRAM) ist ein achtstufiges Modell zur Bewertung und zum inter-organisationalen Vergleich des Fortschritts bei der Einführung elektronischer Patientenakten. Weiterführende Informationen sind verfügbar unter http://www.himss.eu/healthcare-providers/emram. ↩
- Die Normalisierung eines Datenschemas dient der Vermeidung von Redundanzen in Datenbanken. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Normalisierung_(Datenbank). ↩