Martin Haag, Christoph Igel (Expertengruppe Intelligente Bildungsnetze)
Aktueller Stand
Das verfügbare Wissen in der Medizin wächst sehr schnell. Patientinnen und Patienten können aber nur dann vom Wissensfortschritt und damit von einer besseren medizinischen Behandlung profitieren, wenn neue Erkenntnisse möglichst rasch ihren Weg zu den Beschäftigten im Gesundheitswesen finden und so zu einer Verbesserung der Behandlung beitragen können. Der Gesetzgeber hat hier mit der Neuordnung der Ärztlichen Approbationsordnung in 2002 und der Verpflichtung zur kontinuierlichen berufsbegleitenden Fortbildung (Continuing Medical Education – CME) in 2004 wichtige Rahmenbedingungen geschaffen. Damit soll u. a. sichergestellt werden, dass Ärztinnen und Ärzte im Studium adäquat auf lebenslanges Lernen vorbereitet werden und dieses im Berufsleben auch tatsächlich praktizieren. Allerdings zeigen Studien, dass die Behandlung von Patientinnen und Patienten nach wie vor häufig nicht den jeweils neuesten medizinischen Erkenntnissen entspricht.
Intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze können in diesem Zusammenhang einen wertvollen Beitrag leisten, um die Zirkulation von Wissen von den Forschungseinrichtungen und Universitäten in die Verästelungen des Gesundheitswesens hinein zu unterstützen. Teilweise sind die erforderliche technische Infrastruktur, Dienste und Inhalte für eine Umsetzung bereits vorhanden. Allerdings fehlt ein Referenzmodell für ein zukunftsfähiges Ökosystem digitaler Bildung. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern wirken stark hemmend. Während Universitäten und Forschungseinrichtungen sehr breitbandig ans Internet angebunden sind, fehlt in der Fläche teilweise die Bandbreite, um aktuelle und zukünftige Bildungs und Unterstützungsangebote für die Beschäftigten im Gesundheitswesen zur Verfügung stellen zu können. Intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze können nicht nur für die Beschäftigten im Gesundheitswesen eine wertvolle Bereicherung darstellen, auch Patientinnen und Patienten können stark davon profitieren. So haben viele Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten, sich in der Fülle vorhandener Gesundheitsinformationen im Internet zurechtzufinden und gute Entscheidungen bzgl. der eigenen Gesundheit zu treffen. Gesundheits und Bildungsnetze können hier einen wertvollen Beitrag zum Patienten-Empowerment leisten. Im Idealfall stehen Anwendungen und Dienste zur Verfügung, die sich beispielsweise mit Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz an den vorhandenen Wissens- und Kenntnisstand anpassen und das Wissen über die Krankheit und unterschiedliche Behandlungsformen bestmöglich vermitteln, so dass bei den Patienten die Voraussetzung geschaffen werden, wohlinformiert die persönlich beste Entscheidung über die weitere Therapie zu treffen.
Der Bedarf nach Informationen und damit auch das Angebot erscheinen auf jeden Fall recht groß zu sein. So findet man aktuell allein in den App-Stores der iOS bzw. Android-Plattform zwischen 80.000 und 90.000 Apps, die den Bereichen Medizin bzw. Gesundheit und Fitness zugeordnet werden können.
Noch gibt es viele Herausforderungen zu meistern, sind Änderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie weitere Forschungsanstrengungen erforderlich, bis intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze flächendeckend etabliert sind. Allerdings existieren bereits eine ganze Reihe von Best Practice Beispielen, die einzelne Bau steine in einem intelligenten Gesundheits- und Bildungsnetz darstellen könnten und die das Potenzial erahnen lassen.
Ausgewählte Best Practice-Beispiele
Intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze ermöglichen es im Idealfall, Inhalte und Wissen zu teilen und dadurch einen Mehrwert zu schaffen, der von einzelnen Partnern in einem solchen Netz nicht geleistet werden kann. Ein äußerst erfolgreiches Beispiel hierfür ist das Umbrella Consortium for Assessment Networks (UCAN, www.ucan-assess.org), dem sich mittlerweile 65 Partner aus 8 Ländern angeschlossen haben. Diese gemeinnützige Organisation unterstützt die Partner bei der Planung, Erstellung, Durchführung und Auswertung von Prüfungen. So ist durch die gemeinsame Anstrengung eine Fragendatenbank mit über 330.000 Fragen für verschiedenste medizinische Fachgebiete entstanden, die von den beteiligten Partnern jederzeit im Rahmen von lokalen Prüfungen eingesetzt werden können und von diesen kontinuierlich ergänzt werden. Teststatistische Kennwerte werden nach einem Einsatz von Fragen automatisch berechnet und stehen allen Partnern zur Verfügung, so dass schnell ersichtlich wird, welche Frage ein ausreichendes Qualitätsniveau aufweist. Ebenfalls etabliert wurde ein Qualitätssicherungsprozess bei der Fragenerstellung. Für die Prüfungsdurchführung stehen verschiedene technische Lösungen zur Verfügung. Neben einer Software für Desktop-PCs, die typischerweise in Prüfungspools der beteiligten Universitäten installiert wird und deren Schwerpunkt auf der technisch und juristisch sichereren Prüfungsdurchführung liegt, gibt es mehrere Apps zur Durchführung von Prüfungen mit Tablet-Computern in gewöhnlichen Hörsälen und darüber hinaus die Möglichkeit, die mit Hilfe der Software zusammengestellten Prüfungen auszudrucken und anschließend per Scanner ressourcenschonend wieder einzulesen. Seit 2007 wurden in UCAN knapp 20.000 Prüfungen mit jeweils bis zu 3.500 Teilnehmern erfolgreich durchgeführt und damit mehr als 7 Mio. Studenten geprüft. Solche Kooperationen können auch auf andere Themengebiete übertragen werden, die Verfügbarkeit eines intelligenten Gesundheits- und Bildungsnetzes könnte die Kooperation dabei deutlich erleichtern.

Neben der Zusammenarbeit bei der Prüfungsdurchführung kann in vielen Fällen auch die Zusammenarbeit bei der Erstellung von Lerninhalten sinnvoll sein. Mit Virtuellen Patienten kann beispielsweise ohne Risiko für „echte“ Patienten die Anamnese, Diagnostik und Therapie zu verschiedensten Krankheitsbildern bzw. Leitsymptomen trainiert werden. Hierfür stehen Softwaresysteme wie CAMPUS (www.virtuelle-patienten.de) oder CASUS (www.casus.net) zur Verfügung, die es Dozentinnen und Dozenten ermöglichen, mit einem Autorenwerkzeug ohne jegliche Informatikkenntnisse Virtuelle Patienten zu erstellen, die dann auf beliebigen Rechnern genutzt werden können, erforderlich ist lediglich ein Web-Browser. In den USA wird die Erstellung von Virtuellen Patienten teilweise von Fachgesellschaften zentral organisiert und ihren Mitgliedern bzw. den Universitäten zur Verfügung gestellt. Dadurch wird die zeit- und kostenintensive Erstellung von qualitativ hochwertigen Virtuellen Patienten auf viele Schultern verteilt und steht einem großen Kreis von Anwendern zur Verfügung. Intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze können einen wesentlichen Beitrag leisten, damit Lehrende im Gesundheitswesen bei der Erstellung von Content basierend auf gemeinsamen Lernzielkatalogen wie z. B. dem NKLM (Nationaler Lernzielkatalog Medizin) oder NKLZ (Nationaler Lernzielkatalog Zahnmedizin) eine unterstützende Infrastruktur vorfinden und Content auf einfache Art und Weise gemeinsam erstellt, genutzt und weiterentwickelt werden kann.

Neben Lehrenden und Fachgesellschaften können auch EdTech-Start-Ups oder Verlage einen wichtigen Beitrag zu intelligenten Gesundheits- und Bildungsnetzen liefern. Das Start-Up MIAMED (www.miamed.de) beispielsweise bietet Lösungen an, mit denen im Klinikalltag Wissen schnell nachgeschlagen werden kann. Kompakte Lernkarten und kommentierte original-Prüfungsfragen richten sich speziell an Medizin-Studierende zur Prüfungsvorbereitung. Das starke Wachstum des Start-Ups seit Ende 2011 und rasant steigende Nutzerzahlen zeugen davon, dass hier ein echter Bedarf gedeckt wird. Da insbesondere Medizinstudierende über ihre Universitätsbibliotheken Zugriff auf ein riesiges Angebot an Fachzeitschriften und Lehrbüchern haben und viele Dozenten Lehrmaterialien wie z. B. Vorlesungsfolien über die vorhandenen Lernmanagementsysteme bereitstellen, ist ganz offensichtlich nicht der Mangel an vorhandenen Quellen das Problem sondern im Gegenteil deren Vielzahl. Deshalb sind viele Studierende bereit, für entsprechend aufbereitetes kompaktes Wissen auch eigenes Geld auszugeben.
Tatsächlich stehen Informations- und Wissensressourcen im Internet bzw. in den Intranets mittlerweile in einem Umfang zur Verfügung, dass es nicht nur für Studierende sondern auch für Beschäftigte, Auszubildende und Patienten zunehmend schwierig wird, den Überblick zu behalten und die für den persönlichen Bedarf bestmöglichen Informations- und Wissensressourcen zu identifizieren. Intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze könnten hier einen essentiellen Beitrag dazu leisten, basierend auf der persönlichen Situation (Kenntnisstand, persönliche Vorlieben usw.) den situationsbedingt bestmöglichen Content bzw. die optimale Unterstützungsleistung bereitzustellen.
Handlungsbedarf
Damit intelligente Gesundheits- und Bildungsnetze Wirklichkeit werden können, müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. Außerdem muss in die Infrastruktur und in Forschung investiert werden.
- Alle medizinischen Einrichtungen und Praxen müssen mit hoher Bandbreite an ein digitales Gesundheitsund Bildungsnetz angebunden werden. Nur dadurch können alle Beschäftigten des Gesundheitswesens am Arbeitsplatz optimal von einem intelligenten Gesundheits- und Bildungsnetz profitieren.
- Der Austausch von Wissen und Lehrinhalten muss vorangetrieben werden. Die aktuelle BMBF-Projektförderung zum Thema Open Educational Resources (OER) ist positiv zu bewerten, geht aber nicht weit genug. Gerade in der Mediziner- und Zahnmedizinerausbildung sind durch die bundesweit gültige Ärztliche Approbationsordnung und das Vorliegen erster Versionen von Nationalen Lernzielkatalogen die Chancen gut, durch Open Educational Resources den Lehrenden qualitativ hochwertige Inhalte auf Basis von OER über ein intelligentes Gesundheitsund Bildungsnetz leicht auffindbar zur Verfügung stellen zu können und die gemeinsame Entwicklung von Inhalten über Einrichtungs- und über Bundesländergrenzen hinweg zu befördern. Wo noch nicht vorhanden, sollten die Bemühungen zur bundesweiten Standardisierung von Lernzielen und Inhalten verstärkt werden. Dadurch steigt der potentielle Nutzen eines bundesweiten intelligenten Gesundheits- und Bildungsnetzes.
- Die flächendeckende Verbreitung von digitalen Angeboten und Inhalten wird durch das aktuelle Urheberrecht stark gehemmt, so gibt es große Unsicherheiten bei Autoren von digitalen Lehrinhalten. Änderungen sind hier erforderlich und es sollte eine umfassende Open-Access- und Open-Content-Strategie verfolgt werden.
- Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern (Kooperationsverbot) muss im Kontext intelligenter Gesundheits- und Bildungsnetze neu geregelt werden, um die Zusammenarbeit auf allen Ebenen zu erleichtern und zu befördern.
- Beschäftigte des Gesundheitswesens haben sehr unterschiedliche Vorkenntnisse, Lernvorlieben und Lernziele. Semantische Technologien und KI-Methoden können dabei helfen, der vorhandenen Heterogenität und Diversität Rechnung zu tragen und Inhalte und Dienste an die Benutzer zu adaptieren.
- Educational Data Mining und Learning Analytics können Lehrenden und Lernenden helfen, den aktuellen Leistungsstand besser einschätzen zu können. Der Transfer in die Praxis von Erkenntnissen aus der Forschung sollte deshalb befördert werden, hierzu ist es allerdings erforderlich, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, da diese stark hemmend wirken.
- Auf Grundlage neuester Technologien und Standards sollte ein Referenzmodell für ein zukunftsfähiges Ökosystem digitale Bildung erstellt werden. Dabei ist die Anpassbarkeit beispielsweise an gesetzliche Regelungen, einen gegebenen Governance-Kontext und spezifische Ziele und Rahmenbedingungen von einzelnen Hochschulen bzw. Hochschulverbünden erforderlich. Viele Bausteine für ein solches Referenzmodell sind verfügbar, ohne entsprechende Förderung wird daraus aber auf absehbare Zeit von alleine kein zukunftsfähiges Referenzmodell entstehen.