Chancen der Digitalisierung aus Sicht der Krankenkassen

Jens Baas (Techniker Krankenkasse)

Die nächste medizinische Revolution wird kein einzelnes Medikament sein, nicht die Entdeckung eines Wirkstoffs, mit dem Alzheimer oder Krebserkrankungen geheilt werden können. Der nächste große Sprung in der Gesundheitsversorgung wird in der Art bestehen, wie wir die minütlich größer werdende Fülle von Daten klug und sicher nutzen, sie verknüpfen und patientenrelevante Schlüsse daraus ziehen. Aber wollen wir das überhaupt? Tatsächlich stellt sich diese Frage gar nicht – wir müssen es wollen. Wenn wir die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die ja längst begonnen hat und exponentiell an Fahrt aufnimmt, nicht in die Hände US-amerikanischer Konzerne oder Startups legen wollen, in deren Geschäftsmodellen der kommerzielle Umgang mit persönlichsten Daten eine zentrale Rolle spielt und die in einem gänzlich anderen Rechtsrahmen agieren als er hierzulande besteht, müssen wir uns kümmern. Und „wir“ bedeutet in diesem Zusammenhang alle Organisationen, Institutionen und Menschen, die im deutschen Gesundheitssystem Verantwortung tragen und hier insbesondere auch die Krankenkassen. Weshalb die Kassen? Es gibt viele Gründe, nicht erfreut zu sein über die Regulierung, der sie unterliegen. Sie macht vieles langsamer, komplizierter und bürokratischer, als es eigentlich nötig wäre. Aber wenn es darum geht, die Digitalisierung des Gesundheitssystems zu gestalten, wird genau diese Regulierung zu einem Vorteil, der die Krankenkassen prädestiniert, hier eine besondere Rolle zu spielen. Ihr rechtlicher Handlungsrahmen ist klar umrissen, sie unterliegen staatlicher Aufsicht, und ihr Unternehmenszweck besteht nicht darin, Daten zu kommerzialisieren, sondern ihre Aufgabe ist es, die Beiträge ihrer Mitglieder und deren Arbeitgeber optimal für den Erhalt und die Wiederherstellung ihrer Kunden einzusetzen. Sie haben große Erfahrung damit, sensible Daten sicher zu handhaben, und sie tun dies im Wirkungskreis des deutschen Datenschutzrechts, das zu den striktesten der Welt gehört.

Elektronische Gesundheitsakte als „Hub“ im Gesundheitswesen

Eine elektronische Gesundheitsakte (eGA) wird künftig ein Dreh- und Angelpunkt in unserem Gesundheitssystem sein – einem System, das noch immer stark geprägt ist von zutiefst analogen Strukturen und Prozessen. Daher ist es ein durchaus komplexes Unterfangen, eine solche Akte zu entwickeln und zu etablieren. Da ein sicherer Hafen, der medizinische Daten bündelt und sie sicher bereithält, einen großen Nutzen für Versicherte, Patienten und die sie behandelnden Ärzte bietet, sollten alle Krankenkassen verpflichtet werden, ihren Versicherten eine klar definierte elektronische Gesundheitsakte anzubieten. In ihr sollten klassische medizinische Daten enthalten sein wie zum Beispiel ambulante Diagnosen, Krankenhausbefunde, Röntgenbilder und verordnete Arzneimittel. Zusätzlich sollte der Kunde die Möglichkeit haben, eigene Daten einzuspielen, zum Beispiel Informationen aus dem Fitnesstracker, dem Migränetagebuch oder dem Blutzucker-Messgerät. Die Grundfunktionalitäten sollten bei allen Kassen gleich sein, damit die Versicherten sie bei einem Kassenwechsel mitnehmen können und keine Einschränkung in ihrer Wahlfreiheit erfahren. Zusatzfunktionen sollten aber dem Wettbewerb unterliegen, die Kassen hier unterscheidbar sein. Denn ein Wettbewerb, der seinen Zweck im Sinne eines Suchprozesses nach der besseren Lösung erfüllen soll, darf sich nicht im Schielen auf ein Zehntel Prozentpunkt mehr oder weniger beim Zusatzbeitrag erschöpfen. Es muss vielmehr darum gehen, den in der Digitalisierung liegenden Fortschritt für die Versicherten nutzbar zu machen und ihnen auf diesem Weg einen echten, unmittelbar gesundheitsrelevanten Mehrwert zu bieten.

Freiwilligkeit und souveräne Entscheidung des Versicherten als Voraussetzungen für gesellschaftliche Akzeptanz

Um dieses Ziel zu erreichen und auch auf eine Akzeptanz in der Gesellschaft bauen zu können, muss all dies ohne Zwang oder Sanktionierung geschehen. Dazu sind verschiedene Voraussetzungen unerlässlich. Oberste Maxime ist, dass der Versicherte allein Herr seiner Daten ist. Nur er entscheidet, wem er (vollständigen oder teilweisen) Einblick in seine elektronische Gesundheitsakte gewährt – und wem eben auch nicht. Er muss also auch seine Ärzte oder seine Krankenkasse außen vor halten können, und selbstverständlich muss er seine Entscheidung nicht begründen und muss sie auch jederzeit widerrufen können. Die Freiwilligkeit beginnt jedoch noch einen Schritt früher: Es muss in der Entscheidungshoheit des Versicherten liegen, ob er die elektronische Gesundheitsakte nutzen möchte oder nicht. Er darf keine Nachteile erfahren, wenn er sich gegen die Nutzung entscheidet – weder in finanzieller Hinsicht noch was seinen Leistungsumfang oder seinen Versicherungsschutz angeht.

In diesem Zusammenhang kann man nicht häufig genug betonen, dass die gesetzliche Krankenversicherung ein Solidarsystem ist, in dem sich aus guten Gründen die Höhe des Beitrags nicht nach Alter, Geschlecht oder individuellem Gesundheitszustand richtet, sondern einzig und allein nach der finanziellen Leistungsfähigkeit des Mitglieds. Eine in der öffentlichen Debatte immer wieder (zuweilen reflexhaft) diskutierte Tarifierung auf Basis von Gesundheitsdaten wäre ein Fremdkörper in diesem Solidarsystem und darüber hinaus ein Kardinalfehler. Denn das Vertrauen der Versicherten in ihre Interessenvertreter – und das sind die Krankenkassen – würde nachhaltig untergraben, die gesellschaftliche Akzeptanz unterminiert werden.

Die Techniker Krankenkasse ist jetzt den ersten Schritt gegangen und hat mit IBM Deutschland eine auf mehrere Jahre angelegte Entwicklungspartnerschaft geschlossen, um gemeinsam eine elektronische Gesundheitsakte aufzubauen. Das Ziel ist nicht eine Insellösung; erstrebenswert und für das Gesundheitswesen sinnvoller wäre es vielmehr, wenn möglichst viele Krankenkassen und -versicherungen das Modell später nutzen würden.

Risiken minimieren, um die Chancen nutzbar zu machen

Zu den Wesensmerkmalen der Digitalisierung gehören Geschwindigkeit und Disruption. Der Bruch mit gewohnten Strukturen, Abläufen und Arbeitsweisen ist immanent und stellt alle vor ganz andere und immer wieder neue Herausforderungen und Fragestellungen, auf die wir immer schneller Antworten finden müssen, um nicht an Gestaltungskraft zu verlieren. Bei aller Überzeugung von den Chancen der Digitalisierung sollte uns dies aber nicht dazu verleiten, ohne innezuhalten nach vorn zu preschen. Chancen kommen im Allgemeinen nicht ohne Risiko daher. Damit müssen wir künftig noch mehr als heute leben und uns bewusst machen, dass das größte Risiko darin bestünde, die digitale Transformation gar nicht zu gestalten. Denn dann werden andere das tun. Risiken werden sich nicht ausschalten lassen, wir müssen ihnen aber aufmerksam begegnen und sie so weit wie möglich reduzieren. Hinzu kommt, dass die Zukunft nicht nur aus der „schönen, neuen, digitalen Welt“ bestehen wird. Daher brauchen wir auch Antworten für die Menschen, die den Weg in die Digitalisierung nicht mitgehen können oder wollen. Dem Gesundheitswesen bieten sich mit der Digitalisierung Möglichkeiten, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Wir werden sie für die Patienten nutzbar machen können, wenn wir den Mut und den Willen haben, die aktuellen und vor uns liegenden Entwicklungen zu gestalten.