Die Zukunft der digitalen Gesundheitsversorgung in Deutschland

Stefan Uhlig, Thomas Ittel, Gernot Marx (Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University und Uniklinik Aachen)

Vier Faktoren werden die Medizin in naher Zukunft entscheidend verändern: Personalisierung, Digitalisierung, Mechanisierung und Telemedizin. Diese Faktoren werden dazu beitragen, dass sich die Medizin in den nächsten 10 Jahren stärker verändern wird als in den letzten 100 Jahren 1. Im Folgenden erwähnen wir vor allem die disruptiven Technologien, die unserer Auffassung nach erhebliche Konsequenzen für das Gesundheitssystem haben werden.

Personalisierung: Dank des medizinischen und des technischen Fortschritts werden die Ursachen zahlreicher Erkrankungen immer genauer bekannt und diagnostizierbar, sodass vormals syndromale Erkrankungen nun als unterschiedliche Entitäten erkannt werden 2. Vorreiter sind hier onkologische Erkrankungen, aber ähnliche Entwicklungen zeichnen sich ab für andere Volkserkrankungen wie Asthma oder Diabetes 3. Die individuelle Diagnose erlaubt dann eine Therapie, die auf vielen Ebenen personalisiert wird: Medikamentierung, Dosierung, Vorprüfung von Therapien am Patientengewebe in vitro, Gabe von entnommenen und behandelten (Stamm)zellen, Gentherapie, Theranostik. Eine andere Form der Personalisierung sind Wearables 4, die diagnostisch sowie zur Therapieüberwachung und individuellen Therapiesteuerung eingesetzt werden können.

Digitalisierung: Die Digitalisierung schließt Big Data und Künstliche Intelligenz ein (KI). Die Kombination von beidem wird in naher Zukunft zuverlässige Diagnosen durch Softwareprogramme ermöglichen. Besonders weit fortgeschritten sind bereits Programme zur Interpretation der Ergebnisse von bildgebenden Verfahren und der Diagnose onkologischer oder bestimmter Seltener Erkrankungen. Die Kombination von Big Data und KI wird ein wichtiges Werkzeug zur Bewertung von Therapien werden. Das Problem, das aus der Tatsache erwächst, dass sich das medizinische Wissen im Jahr 2020 alle 73 Tage verdoppeln wird 5, wird nur durch computergestützte Arztunterstützungssysteme gelöst werden können. Gleichzeitig wird damit das neueste Fachwissen breit verfügbar.

Mechanisierung: Intelligente Roboter und intelligente Unterstützungssysteme werden zunehmend Personal ersetzen können und älteren oder behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen 6. Der Einsatz dieser Techniken wird von der gesellschaftlichen Akzeptanz abhängen.

Telemedizin: Die Telemedizin erlaubt es, Expertenwissen in die Fläche zu tragen, bis hin in allgemeinmedizinische Praxen und zum Patienten nach Hause. Ein besonderer und aus regulatorischer Sicht wichtiger Aspekt der Telemedizin ist, dass sie nicht an nationale Grenzen gebunden ist.

Konsequenzen für die Krankenversorgung

Alle diese Techniken wirken zusammen und ergänzen sich. In der Summe bewirken die neuen Techniken auf der einen Seite eine „Demokratisierung“ der Medizin: der Zugang zu Expertenwissen und die Verfügbarkeit von billigen Diagnostikgeräten wird für alle Ärzte und selbst für Laien verfügbar – ein enormer Gewinn für die allgemeinärztliche und ein möglicher Verlust für die fachärztliche Spezialisierung im ambulanten Bereich. Was aber nicht ambulant behandelt werden kann, benötigt immer komplexere Diagnose- und Behandlungspfade, die nur in hoch-spezialisierten Zentren vorgehalten werden können 7. Wir möchten im Folgenden die Konsequenzen dieser Entwicklungen  für einzelne Sektoren im deutschen Gesundheitssystem diskutieren.

Ambulante Gesundheitsversorgung

In diesem Bereich sind die folgenden Entwicklungen absehbar:

  • Sensoren in Wearables wie Uhren, Ringen, Stirnbändern, Kleidung oder Pflastern werden Daten über Herzfrequenz, Blutdruck, EKG, EEG, Körpertemperatur, Sauerstoffsättigung und körperliche Aktivitäten liefern. Detailliertere Informationen können über Insideables 8 ermittelt werden, wie Glukosemessung in Kontaktlinsen oder Implantate mit Sensoren.
  • Es wird eine Vielzahl von neuen Diagnostikgeräten geben (Digital Doctor’s bag), die weitergehende Untersuchungen mit einfachen Geräten erlauben, die an ein Smartphone angeschlossen werden können, z. B. Otoskope, Stethoskope oder Ultraschallgeräte.
  • Mit in Smartphones jederzeit verfügbaren Kameras werden Fotos, Stimmaufnahmen und Filme erstellt, die entweder automatisch ausgewertet werden können (z. B. Hauterkrankungen, Erkennung von Seltenen Erkrankungen anhand von Gesichtsaufnahmen 9, psychiatrische und neurologische Diagnosen anhand der Stimme)10 oder in telemedizinischen Konzilen.
  • Digitale Mustererkennungsverfahren und Künstliche Intelligenz werden auf der Basis dieser Daten umfangreiche Prävention und Diagnostik ermöglichen.
  • Die Analyse von Bildern aller Art (z. B. Röntgen, MRT, CT, Sonographie, Augenhintergrund) wird zuverlässig von Programmen durchgeführt werden.
  • Patienten können von Ärzten (z. B. Babylon) 11 oder Krankenschwestern (z. B. Sense.ly) 12 mit KI-Unterstützung betreut werden.
  • Die Firmen, die diese Produkte samt Software – einschließlich Apps – herstellen, arbeiten international.

Daraus folgen Entwicklungen, die die ambulante Gesundheitsversorgung nachhaltig verändern werden:

  • Prävention: Prävention wird auf mehreren Ebenen stattfinden: Die kontinuierliche Datenaufzeichnung eignet sich sowohl als Früherkennungsprogramm und zur Vermeidung von unnötigen Krankenhauseinweisungen13 als auch zur Überwachung gesunden Verhaltens (z. B. Bewegung, Körperhaltung, Nahrungsaufnahme).
  • Hausbesuche: Viele Diagnosen und Rezepte werden online (auch mit Bots) oder telemedizinisch erstellt werden können, ohne dass der Patient einen Arzt besucht 14. Der Patient hat auch die Wahl, über Dienste wie Uber Health 15 (ähnlich wie bereits für Taxen etabliert) verfügbare Ärzte oder Pfleger zu sich nach Hause kommen zu lassen; derartige Dienste sind ganz neue Teilzeitarbeitsmodelle.
  • Ambulante Arztbesuche: Viele Arztbesuche werden auf diese Weise entfallen. Außerdem erwächst den niedergelassenen Ärzten ein enormer Kompetenzgewinn
    durch günstige, moderne, leistungsfähige und immer günstiger werdende Geräte (z. B. Ultraschall, Kohärenztomographie), leistungsfähige Bildanalyse- Software, KI-gestützte Diagnose-Programme und telemedizinische Unterstützung. Dies wird zu einer Aufwertung der allgemein- und hausärztlichen Tätigkeit führen und damit fachärztliche Expertise breit verfügbar machen. Die fortgeschrittene Technologie wird auch zu der Überlegung führen, ob Absolventen von akademischen Gesundheitsfachberufen einen Teil der Aufgaben in der ambulanten Versorgung übernehmen können.
  • Therapiebegleitung: Die digitalen Medien eignen sich zur Therapiebegleitung: telemedizinische Überwachung, Warnungen bei Notfällen, Erinnerungen an Medikamenteneinnahme. Viele Kontrollvisiten werden damit überflüssig.

Herausforderungen für die Politik:

  • Datenschutz: Die persönlichen Daten müssen wirksam geschützt werden, ohne die enormen Vorteile der Digitalisierung aufzugeben. Deutschland ist hier sehr konservativ und es muss gefragt werden, wie der Datenschutz national geregelt werden kann, wenn internationale Konzerne wie Google, Apple, IBM oder Uber in den Markt drängen und Dienste anbieten, diefür deutsche Patienten so attraktiv sind, dass sie ihre Krankendaten genauso freiwillig zur Verfügung stellen wie jetzt schon persönliche Daten bei Facebook. Es wird sich die Frage nach einer internationalen Patientenakte stellen.
  • Refinanzierung: Die Internetmedizin bietet erhebliche Einsparpotenziale, die im aktuellen E-Health-Gesetz nur zum Teil erschlossen werden. Es ist zu klären wie die Krankenkassen sich verhalten sollen, wenn Patienten über das Internet preiswerte medizinische Dienste nutzen, deren Anbieter im In- und Ausland sind. Die Möglichkeit, durch Wearables und Insideables gesundheitsrelevante Daten und Verhaltensmuster kontinuierlich zu erfassen, führt zu den Fragen, ob Prävention belohnt werden soll und ob Kassen Nachlässe für gesundes Verhalten gewähren dürfen – ungesundes Verhalten verursacht einen besonders hohen Teil der Kosten chronischer Erkrankungen.
  • Allgemein- und Fachärzte: Die moderne Technologie löst das Problem der allgemeinärztlichen Versorgung nicht nur auf dem Land. Durch den Kompetenzgewinn der Allgemeinärzte können viele fachärztliche Kompetenzen insbesondere im niedergelassenen Bereich ersetzt werden. Gleichzeitig führt der Kompetenzgewinn zu einer ganzheitlicheren Diagnose, die alle Organsysteme einbezieht. Das heißt, die Zukunft gehört zwei Extremen: dem elektronisch unterstützten Generalisten in einer allgemeinärztlichen Praxis und dem höchstspezialisierten Facharzt in einem Hochleistungsumfeld. Die medizinische Versorgung der Zukunft könnte drei Ebenen haben: (1) Bagatellerkrankungen werden zu Hause über Internetmedizin oder „Uber“-Ärzte behandelt; (2) Viele weitere Erkrankungen werden ambulant beim Generalisten/MVZ mit Unterstützung durch Telemedizin und KI behandelt; (3) Hochspezialisierte Leistungen finden in exzellent und umfassend ausgerüsteten Krankenhäusern statt.

Geriatrie

In diesem Bereich sind die folgenden Entwicklungen absehbar:

Viele wichtige Entwicklungen zielen darauf ab, älteren Menschen ein selbstbestimmtes Leben in der vertrauten Umgebung zu ermöglichen:

  • Wearables ermöglichen es Ärzten und intelligenter Software, ältere Menschen vor drohenden gesundheitlichen Problemen zu warnen und entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen. Berührungslose Diagnostikgeräte (EKG im Stuhl, Herzfrequenzmessung in der Matratze, Infrarotkameras im Spiegel) werden zusätzliche Informationen liefern, wenn Wearables nicht getragen werden. Daran gekoppelt sind Notfallsysteme, die bei Stürzen, Ohnmacht oder ähnlichem automatisch einen Rettungsdienst alarmieren.
  • Handy-Apps oder andere geeignete Funktionen werden ältere Menschen darin erinnern, ihre Medikamente zu nehmen und deren Einnahme überwachen. Andere Systeme werden ältere Patienten an das Trinken erinnern (Aachener Durstsensor), um die typische Dehydrierung und Delirs zu verhindern.
  • Roboter und Exoskeletts werden ältere Menschen bei vielen Tätigkeiten unterstützen.

Herausforderungen für die Politik:

Viele dieser Geräte sind im Graubereich zwischen Apps und genehmigungspflichtigen Medizinprodukten anzusiedeln. Hier werden klare Regelungen zur Inverkehrbringung gebraucht. Investitionen älterer Menschen in diesem Bereich könnten über die Pflegepauschale finanziert werden. Geeignete Notfallsysteme müssen aufgebaut werden.

Stationäre Versorgung / Maximalversorger

In diesem Bereich sind die folgenden Entwicklungen absehbar:

Die Medizin der Zukunft im stationären Bereich wird hochgradig technisiert und personalisiert sein.

  • Innovationen wie Stammzelltherapien, intelligente Prothesen aus dem 3D-Drucker, künstliche Organe, Augmented Reality 16 zur Unterstützung bei Tätigkeiten wie Operationen, Sensorimplantate im Gehirn oder Nanotheranostika werden die bisherigen Therapien entscheidend verbessern.
  • Die Medizin der Zukunft wird hoch individualisierte Diagnosen bieten. Dazu ist ein umfangreiches Panel an Diagnostikwerkzeugen notwendig: z. B. Bildgebung, Theranostika, Pathologie, Durchflusszytometrie, Zytogentik, Omics-Analysen (Genomics, Proteomics, Lipidomics, etc.).
  • Die fortschreitende Technisierung verursacht nicht nur hohe Kosten für Anschaffung und Wartung, sondern benötigt auch immer höher qualifiziertes Personal.
  • Aus der individuellen Diagnose folgt die individuelle Therapie: diese Therapie beinhaltet nicht nur die passgenaue Gabe und Dosierung von Medikamenten, sondern zunehmend auch die Entnahme von Zellen und Gewebe (Stichwort Organoide) des Patienten mit zwei Zielen: (1) Austesten der Therapie in vitro; (2) Rücktransfer der behandelten Zellen in den Patienten.
  • Die Individualisierung der Medizin bringt enorme Datenmengen mit sich, sodass der Beruf des Medical Data Scientist entstehen wird.
  • Die Individualisierung wird in vielen Bereichen dazu führen, dass Erkrankungen molekular beschrieben werden, mit der Folge, dass die Therapie nicht mehr vom Organ abhängt, sondern von der molekular beschriebenen Fehlfunktion. Dadurch werden Fächergrenzen verschwimmen und die Zentrenbildung immer notwendiger.
  • Roboter werden das medizinische Personal bei ihrer Arbeit unterstützen: Beispiele sind Unterstützung bei körperlichen Arbeiten wie das Umbetten von Patienten oder bei der Physiotherapie, aber auch zur automatisierten Desinfektion von Räumen (Fa. Xenex) 17 oder zur Sterilisation von OP-Besteck.
  • KI wird dabei helfen, die Patientenpfade und Behandlungspläne deutlich zu verbessern.

Herausforderungen für die Politik:

  • Die personalisierte Medizin, die eine umfassende, hochtechnisierte und fächerübergreifende Diagnostik voraussetzt, wird sinnvoll vor allem in großen Zentren zu leisten sein. Die Krankenhäuser der Zukunft sollten daher vornehmlich Maximalversorger und Supramaximalversorger sein 18.
  • Die (Supra)maximalversorger sollten als telemedizinische Zentren ausgebaut werden.
  • Der schnelle Fortschritt in der Medizin erfordert immer wieder sachliche und räumliche Neugestaltungen. Die Krankenhäuser der Zukunft sollten modular gebaut werden, so dass ganze Bereiche aus dem Gebäude herausgenommen und gegen neue bereits fertig installierte Bereiche ausgetauscht werden können.
  • Die Personalisierung der Medizin muss sektorenübergreifend funktionieren. Beispielsweise könnten stationäre Patienten früher entlassen werden, wenn wichtige Funktionen und Aufgaben telemedizinisch überwacht werden können. Die diagnosebezogenen Fallgruppen (DRGs) sind daher in Richtung einer Bundled Healthcare weiterzuentwickeln.
  • Die Vernetzung der Daten verschiedener Krankenhäuser und die Auswertung mit KI könnte Qualitätsprobleme, aber auch besonders gute Behandlungen an einzelnen Standorten aufdecken und dazu beitragen, dass alle Patienten bestmöglich behandelt werden. Daher ist Vernetzung eine qualitätssichernde und zugleich eine soziale Maßnahme.
  • Ärzte sollten im Rahmen von Studium und Weiterbildung mit Data Sciences, KI und Deep Learning 19 vertraut gemacht werden.
  1. Zitat von Vivek Wadhwa (https://en.wikipedia.org/wiki/Vivek_Wadhwa). Er wurde 2012 von Foreign Policy zu den Top 100 der Globalen Vordenker und 2013 vom Time Magazine zu den 40 einflussreichsten Denkern im Technologiesektor gezählt.
  2. Die Personalisierung umfasst auch das Geschlecht; allerdings ist das Geschlecht nur eine von vielen Variablen, so dass die Gender-Medizin in der personalisierten Medizin aufgeht.
  3. Im Grunde kann man auch die etwa 8.000 seltenen Erkrankungen dazu zählen, die immer besser diagonstizierbar und zum Teil auch behandelbar werden.
  4. Wearable Computer, kurz Wearables
  5. http://wingofzock.org/2014/12/23/medical-education-toy-airplane-or-stone-flywheel/
  6. Künstliche Gelenke, Brillen oder Hörgeräte sind seit langem bekannt.
  7. Dänemark hat diese Entwicklung konsequent vorgedacht und bietet ein solches Zentrum für jeweils 250.000 Einwohner.
  8. Computer im Körper, Kurzwort Insideables in Analogie zu den Wearables, die am Körper getragen werden.
  9. https://medicalxpress.com/news/2017-03-facial-recognition-software-rare-genetic.html
  10. https://www.technologyreview.com/s/603200/voice-analysis-tech-could-diagnose-disease/
  11. https://www.babylonhealth.com
  12. http://sense.ly/
  13. http://sentrian.com/ oder https://med.stanford.edu/news/all-news/2017/01/wearable-sensors-can-tell-when-you-are-getting-sick.html
  14. Medgate in der Schweiz; Dr. Ed mit 200.000 Behandlungen in Deutschland (FAS 26.2.2017, S. 24)
  15. http://uberhealth.co/
  16. Die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung (https://de.wikipedia.org/wiki/Erweiterte_Realität)
  17. https://www.xenex.com/
  18. Beispielsweise sind Krankenhäuser ohne CT in Zukunft nicht mehr sinnvoll. Allein davon gibt es in Deutschland mindestens 359.
    (Leopoldina, Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, Oktober 2016).
  19. Eine Klasse von Optimierungsmethoden künstlicher neuronaler Netze (https://de.wikipedia.org/wiki/Deep_Learning)