Rainer Beckers, Veronika Strotbaum (ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH)
In einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen will gut abgewogen sein, welche Leistungen im System der Krankenversicherung finanziert werden und welche nicht. Eine zu großzügige Auslegung des Leistungsrahmens in der GKV birgt die Gefahr, dass das System finanziell überfordert wird. Die Beiträge würden über Gebühr steigen und so vor allem den Faktor Arbeit belasten und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft schwächen. Auf der anderen Seite jedoch kann eine zu enge Auslegung wiederum vor allem für die Gesundheitsversorgung, insbesondere aber für die einzelnen Patientinnen und Patienten sogar dramatische Folgen haben, wenn dadurch aussichtsreiche Therapieoptionen nicht genutzt werden können. Für beide Szenarien lassen sich genügend Beispiele finden, die hier aber nicht im Einzelnen thematisiert
werden müssen.
IT-Anwendungen bzw. digitale Lösungen, wie etwa telemedizinisch gestützte Versorgung, bieten das Potenzial, Prozesse und Versorgungspfade effizienter und auch bedarfsgerechter zu gestalten und damit Ressourcen zu schonen. Bei aller
Euphorie für die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Digitalisierung insbesondere im Gesundheitswesen kein Selbstzweck ist. Durch die Digitalisierung der Versorgungsprozesse können diese, müssen aber nicht per se besser werden. Daher muss ebenso bei telemedizinischen Anwendungen hinsichtlich ihrer Vergütung durch die GKV abgewogen werden, ob sie auch wirklich sinnvoll sind, ob z. B. eine Verlagerung therapeutischer Elemente in das häusliche Umfeld vielleicht nur „bequem“ ist, oder tatsächlich medizinisch adäquat. Auch werden eher schwache medizinische Prädiktoren für physiologische Dekompensationen nicht dadurch aussagekräftiger, dass man sie digitalisiert und nun regelmäßig per Telemonitoring auswertet.
Es ist auch so nachvollziehbar, dass die Forderung des Gesetzgebers gemäß § 2 SGB V an dieser Stelle, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den
medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben, auf den ersten Blick eine plausible Vorgabe darstellt. Sie wirft aber auch eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf: Wo sind wissenschaftliche Konzepte zu finden, die tatsächlich allgemein anerkannt sind, also unumstritten? Ist nicht gerade die Medizin eine wissenschaftliche Disziplin, die durch „Schulen“ und damit verbundene Paradigmen geprägt ist? Wie definiert sich der Stand medizinischer Erkenntnisse? Liegt dieser allein in der Hoheit der „Universitätsmedizin“ Ist der Erkenntnisstand international zu definieren oder nur national? Wie kann überhaupt die Beantwortung dieser Fragen neutral und allgemein akzeptiert organisiert werden? Und: Ist eine „gute“ Medizin nicht auch immer eine einzelne Abwägung zwischen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, persönlichen Erfahrungen der Behandelnden und individuellen Faktoren bzw. Wünschen der/s Patientin/en?
In vielen Jahren organisatorischer Verselbstständigung im Gesundheitswesen haben die Akteurinnen/Akteure darauf eine beeindruckend kurze Antwort gefunden. Sie findet sich in der Verfahrensordnung des für die Überprüfung sogenannter „Neuer Methoden“ zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses. Demnach ist „der Nutzen einer Methode … durch qualitativ angemessene Unterlagen zu belegen. Dies sollen soweit möglich, Unterlagen der Evidenzstufe I mit patientenbezogenen Endpunkten (z. B. Mortalität, Morbidität, Lebensqualität) sein.“ (Verfahrensordnung, § 13, Abs. 2 1.
Was bedeutet das aber konkret? D. h., wenn eine telemedizinische Anwendung als neue Methode eingeordnet wird, muss ihr patientenbezogener Nutzen in Form mindestens einer, besser aber mehrerer prospektiver, randomisierter Studien nachgewiesen werden. Damit wird eine im Allgemeinen nichtinvasive, risikoarme Methode auf eine Ebene mit hochriskanten therapeutischen Verfahren gestellt. Dies ist offensichtlich wenig zweckmäßig, weil methodisch meist nicht einlösbar. Die potenziellen Vorteile der Digitalisierung bleiben dadurch dem Gesundheitswesen vorenthalten. Es braucht also eine innovationsfreundliche und gleichzeitig wissenschaftlich-kritische Definition des Standards für die Frage, wann wir an den Nutzen einer Methode glauben und wann nicht.
Der hier aufgezeigte Lösungsansatz ist u. a. entstanden durch die Arbeit und Erfahrungen der ZTG GmbH im Rahmen der „Telemedizin-Modellregion Ostwestfalen-Lippe“, der Koordination der Landesinitiative eGesundheit.nrw, der Arbeit in verschiedenen gesundheitspolitischen Gremien, aus einer Analyse der Projekte des Deutschen Telemedizinportals des Bundes 2 sowie insbesondere durch die Erstellung von Evidenzreports zu verschiedenen telemedizinischen Anwendungsfeldern.
Methodische Besonderheiten telemedizinischer Anwendungen
Telemedizin ist weder von ihrem medizinischen noch ihrem ökonomischen Risikopotenzial her vergleichbar mit der Pharmakotherapie. Bei näherer Beschäftigung mit den Besonderheiten telemedizinischer Leistungen wird zudem deutlich, dass mit der Telemedizin gelegentlich auch komplexere Interventionen verbunden sind, deren einzelne Elemente und jeweilige Effekte nur schwerlich zu trennen sind. Schon dieser Umstand verbietet die Analogie zur Pharmaforschung. Keiner weiteren Erläuterung bedarf, dass die übliche Verblindung analog zu der Gabe eines Placebos offensichtlich nur schwerlich möglich sein dürfte, da den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern quasi eine Attrappe eines telemedizinischen Gerätes zur Verfügung gestellt werden müsste – was sowohl aus Gründen der Sicherheit als auch der Machbarkeit und aufgrund ethischer Gesichtspunkte kaum vertretbar ist.
Vor diesem Hintergrund ist darüber zu diskutieren, ob der methodische Rahmen für die Evaluation unterschiedlichster telemedizinischer Verfahren in Hinblick auf die Integration in die Regelversorgung zu flexibilisieren ist, um einen verantwortlichen Innovationspfad für digitale Technologien zu schaffen. Unter einer Flexibilisierung soll hier verstanden werden, dass das gesamte methodische Repertoire der empirischen Sozialforschung akzeptiert sein sollte, und entlang systematischer pragmatischer Kriterien, die den faktischen Anwendungshorizont einbeziehen, ausgewählt werden muss. Hier stellt sich also die Frage nach den Kriterien für die methodische Flexibilisierung: Zunächst könnte dazu unterschieden werden zwischen telemedizinischen Programmen, die ein bereits bestätigtes bzw. etabliertes Verfahren lediglich digitalisieren und solchen, bei denen ein neuer oder neuartiger medizinischer Prozess bzw. ein neues medizinisches Modell zugrunde liegt. Forderungen nach einer Evaluation im RCT-Design sind insbesondere berechtigt, wenn es sich bei der telemedizinischen Leistung um ein völlig neues medizinisches Modell handelt. Eine neue Sensorik oder aber Unsicherheiten im prädiktiven Wert von Vitalparametern könnten hier zugeordnet werden.
Telemedizin in der Intensivmedizin und Infektiologie – das Beispielprojekt TELnet@NRW
Im Rahmen des Innovationsfonds wird mit TELnet@ NRW (für mehr Informationen siehe www.telnet.nrw) aktuell ein Projekt gefördert, welches nicht nur telemedizinisch, sondern auch in methodischer Hinsicht einen stilbildenden Lösungsansatz aufweist.
Die grundlegende Innovation besteht in diesem Projekt darin, dass sektorübergreifend sowohl Intensivstationen von 17 Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung als auch niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte aus zwei Arztnetzen per Videokonferenztechnik universitäre medizinische Expertise zur Verfügung gestellt wird. Ziel ist es, eine leitlinienorientierte Behandlung von Patienten/-innen mit intensivmedizinischen und/ oder infektiologischen Fragestellungen zu unterstützen. Durch die telemedizinische Mitbehandlung sollen komplexe Krankheitsbilder, wie z. B. Sepsis (Blutvergiftung), frühzeitiger erkannt, bei bereits eingetretenen Krankheitssymptomen eine Verschlimmerung (wie etwa einen septischen Schock) durch eine leitliniengerechte Therapie verhindert und ein sparsamer und adäquater Umgang mit wichtigen Antibiotika insbesondere auch im niedergelassenen Bereich erzielt werden 3.
Die Evaluation in einem prospektiven RCT-Design stößt aber insbesondere aufgrund der schwierigen Kontrollgruppenbildung auf Grenzen. So ist es schon aus ethischen, aber auch aus praktischen Gründen nicht akzeptabel, auf Patientenebene zu randomisieren. Stattdessen evaluiert TELnet@NRW mittels einer geschickten Mischung aus Clusterrandomisierung und Vorher-Nachher- Vergleich im sogenannten Stepped-Wedge-Design. Im Kern bedeutet dies, dass die Intervention in einer definierten zeitlichen Abfolge zufällig auf die einzelnen teilnehmenden Krankenhäuser übertragen wird und in die Kontrollgruppen aus den behandelten Fällen aus einer Vorphase gebildet werden. Dabei werden die Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte bzw. Study Nurses zunächst umfassend in Hinblick auf die Umsetzung von Leitlinien und in der Studiendokumentation geschult. Anschließend erfolgt eine Einübungsphase (Transitionsphase) ohne jegliche Intervention. Die in dieser Phase behandelten Patientinnen und Patienten bilden nun gewissermaßen die Kontrollgruppe. Es folgt darauf dann die Interventionsphase. In dieser Phase kommt die Telemedizin zum Einsatz.
Das Outcome dieser Phase wird mit der vorherigen Phase auf Patientenebene verglichen. Der Einschluss der Krankenhäuser erfolgt dabei zeitlich versetzt und per Zufallsauswahl. Für dieses Design sprechen mehrere Gründe:
- Es ist aus methodischen und organisatorischen Gründen nicht zu gewährleisten, genügend zufällig ausgewählte und tatsächlich vergleichbare Einrichtungen für eine Kontrollgruppe zu finden, da ein positiver Effekt der Intervention unterstellt werden kann.
- Es können aus ein praktischen Gründen nicht alle 17 Krankenhäuser und über 120 Arztpraxen gleichzeitig an den telemedizinischen Service angeschlossen werden (Infrastruktur, u. a.). Eine Vergleichsgruppe aus anderen – nicht beteiligten – Krankenhäusern scheidet aus mehreren Gründen ebenfalls aus. Vor allem die stets unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen der einzelnen Krankenhäuser würden eine Vergleichbarkeit sehr erschweren.
- Eine randomisierte Zuteilung auf Patientenebene würde die gleichzeitige telemedizinische Zusatzversorgung und konventionelle Versorgung innerhalb einer Einrichtung voraussetzen, welches nicht sinnvoll umsetzbar ist.
Zudem spricht das denkbar geringe zusätzliche patientenbezogene Risiko bei dieser Intervention nicht für die Notwendigkeit eines aufwendigen RCT-Studiendesigns. Dennoch werden durch dieses Studiendesign patientenrelevante Outcomes (Behandlungsqualität, Reduktion der Sepsis-Sterblichkeit, gesundheitsbezogene Lebensqualität, etc.) erhoben, welche ebenso aussagekräftige Ergebnisse für die Entscheidungsträger / -innen im Gesundheitswesen liefern. Deutlich wird an dem bei „TELnet@ NRW“ vorgestellten Versorgungsszenario zudem, dass die meisten telemedizinischen Anwendungen insbesondere auf die Verbesserung und Weiterentwicklung von relevanten und bereits grundsätzlich bestehenden Versorgungsprozessen zielen und es sich weniger um komplett neue medizinische Module handelt.
Differenzierung telemedizinischer Lösungen
Das oben dargestellte Beispiel von „TELnet@NRW“ stellt den Einsatz von Telemedizin in einem bestimmten Anwendungsfeld vor. Es existieren jedoch noch einige telemedizinische Anwendungen mehr, welche sich untereinander durchaus beträchtlich unterscheiden – es kann daher nicht von der Telemedizin gesprochen werden. Eine zentrale Unterscheidung ist dabei in „doc- 2doc“ und „doc2patient“-Anwendungen vorzunehmen, wie nachfolgende Abbildung deutlich macht:

Doc2doc-Anwendungen sollen den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen/Ärzten bzw. Angehörigen anderer Gesundheitsberufe unterstützen und eine intersektorale Kommunikation zwischen medizinischen Leistungserbringern fördern. Beispiele hierfür sind die telekonsiliarische Befundung von radiologischen Bilddateien oder das telemedizinische Konsil bei interdisziplinären Wundkonferenzen. Die zweite Variante fokussiert die direkte Kommunikation zwischen Patientin/Patient und Versorger. Beispiele für diese Variante stellen internetgestützte Therapien bspw. bei der Behandlung psychischer Krankheiten oder telemedizinisch gestützte Patientenschulungen, z. B. im Rahmen von Lebensstiländerungen bei Hypertonikern, dar. Zu betonen sei an dieser Stelle, dass eine klare Einteilung in eine der beiden Varianten nicht bei allen telemedizinischen Szenarien möglich ist, da es z. B. beim Telemonitoring häufig zu einem kooperativen Dreieck zwischen dem telemedizinischen Zentrum, der/m niedergelassenen Ärztin/Arzt und Patientin/ Patienten kommt 4.
Die Anwendungsbeispiele machen ersichtlich, dass einzelne Applikationen unterschiedlich große Veränderungen der Art der Leistungserbringung, der Intensität des Technikeinsatzes sowie nicht zuletzt unterschiedlich große Patientenrisiken und ökonomische Risiken mit sich bringen. Insbesondere Anwendungen im doc2doc Bereich, bspw. die Teleradiologie, betreffen Patientinnen und Patienten nicht direkt und bedingen daher auch prinzipiell kaum vitale Risiken. Zudem ändern sie nicht die zugrundeliegende medizinische Struktur des ärztlichen Befundens und des Austausches von radiologischen Bilddateien.
Telemedizin als Risiko?
Bei allen Innovationen im Gesundheitswesen ist zu analysieren, ob durch diese höhere Risiken vitaler oder ökonomischer Natur zu erwarten sind, die einer Aufnahme in den GKV-Leistungskatalog widersprechen, da der ermittelte Nutzen die Risiken nicht übersteigt. Telemedizinische Anwendungen sind da prinzipiell (!) keine Ausnahme. Die Arbeitsgruppe Telemedizin der Bundesärztekammer hat im Mai 2015 in diesem Zusammenhang Anwendungsgebiete für eine regelhafte Versorgung genannt, in welchen telemedizinische Verfahren einen relevanten Nutzen in der Patientenversorgung stiften können bei sehr überschaubaren Risiken. Dazu zählen insbesondere Anwendungen aus dem doc2doc-Bereich, wie z. B. in der teleneurologischen Behandlung von Schlaganfallpatienten oder die Teleradiologie, also bei teils zeitkritischen Erkrankungen. Weiterhin wird die telemedizinische Betreuung bzw. das Telemonitoring bei vielen chronischen Erkrankungen positiv erwähnt. Es wird angeführt, dass diese Methoden eine zusätzliche Qualität bringen können und Versorgungslücken vorbeugen helfen bei vergleichsweise geringen Risiken 5.
Die von der ZTG GmbH angefertigten Evidenzreports/ Studienrecherchen in den telemedizinischen Anwendungsfeldern „Diabetes mellitus“ (mit 13 Studien) „Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)“ (mit 16 Studien), „Wundmanagement“ (mit 11 Studien) „Psychotherapie“ (mit 19 Studien), „Augenhintergrundscreening“ (mit 9 Studien), „Intensivmedizin“ (mit 10 Studien), „Parkinson“ (mit 5 Studien) sowie „Kardiologie“ (mit 61 Studien) bestätigen diese Tendenzen. Die Studien beschäftigen sich teils mit unterschiedlichen speziellen telemedizinischen Anwendungsformen innerhalb des jeweiligen Krankheitsbildes, z. B. die telekardiologische Behandlung in Hinblick auf das Schrittmachermonitoring oder das Gerinnungsmanagement und sind selbstredend jeweils unterschiedlichen Evidenzklassen zuzuordnen. In keiner der recherchierten Studien finden sich jedoch Hinweise auf telemedizinisch bedingte vitale Risiken für die Patienten.
Vielmehr zeigen sich eine insgesamt gute Machbarkeit und Akzeptanz telemedizinischer Verfahren sowohl auf Seite der Patienten/-innen als auch der Behandelnden und positive Effekte – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – in Hinblick auf folgende Parameter:
- Gesundheitsbezogene und allgemeine Lebensqualität der Patienten
- Morbidität
- Mortalität
- Sicherheitsgefühl bei den Patientinnen/Patienten und ihren Angehörigen
- Wirtschaftlichkeit (Hospitalisierungsrate)
- Nachsorgeerfolg nach stationären Aufenthalten
Auch wenn weder aus den Evidenzreports noch aus dem Deutschen Telemedizinportal oder anderen Quellen Studien bekannt sind, die auf ein höheres, vitales Risiko für Patientinnen und Patienten hinweisen, dürfen mögliche langfristige Gefahren natürlich nicht ausgeschlossen bleiben.
Befürchtet wird z. B. in diesem Zusammenhang, dass einer Distanzmedizin der Weg geebnet wird und Telemedizin negative Auswirkungen auf die Arzt-Patientenbeziehung hat. Ärztinnen und Ärzte äußern hinsichtlich der Einführung telemedizinischer Angebote die Befürchtung, dass diese nicht ihrer Vorstellung vom Arzt-Patienten- Verhältnis entsprechen 6.
In diesem Zusammenhang muss auch diskutiert werden, ob telemedizinische Angebote insbesondere für Patientinnen und Patienten mit bestimmten soziodemographischen Merkmalen geeignet scheinen bzw. diese ansprechen und andere von vorneherein ausschließen, weil sie etwa Fähigkeiten in den Bereichen der Technik- und Gesundheitskompetenz etc. voraussetzen oder nicht ausreichend barrierefrei/barrierearm gestaltet sind. Dies würde natürlich einer gerechten Gesundheitsversorgung widersprechen 7.
Bezüglich einer gerechten Gesundheitsversorgung könnte weiterhin ein langfristiges Risiko darin bestehen, dass Telemedizin möglichweise dazu genutzt wird, vor allem aus ökonomischen Überlegungen heraus den Versorger vor Ort durch Technik zu ersetzen. So existieren bspw. in der Schweiz bereits von den Krankenkassen akzeptierte und geförderte Geschäftsmodelle, die ermöglichen, dass Erkrankte ausschließlich am Telefon beraten werden und sogar Rezepte ohne persönlichen Kontakt ausgestellt werden 8.
Für Patientinnen und Patienten können sich ferner Risiken aus mangelnder IT-Sicherheit ergeben. Der mangelnde Schutz sensibler Patientendaten stellt ein ernstzunehmendes Risiko dar. Die gewissenhafte Einhaltung und technische Umsetzung der datenschutzrechtlichen Grundsätze ist, ebenso wie in anderen Bereichen der Medizin bzw. wenn es um die Verarbeitung von personenbezogenen Daten geht, von grundlegender Bedeutung 9. Die organisatorische und technische Handhabung dieser Risiken ist jedoch möglich, die Verschlüsselung von medizinischen Informationen, die Nutzerauthentifizierung durch elektronische Signaturen sind hierbei die entscheidenden Verfahren 10.
Da telemedizinische Anwendungen oftmals zusätzliche Versorgungsleistungen darstellen, darf ein Blick auf die ökonomische Seite nicht fehlen. Anwendungen, die mit hohen Investitionen für Personal (Stichwort: ärztliche Leitung telemedizinischer Zentren mit 24/7-Bereitschaft) und Infrastruktur verbunden sind, bergen natürlich implizit die Gefahr, dass der Nutzen den ökonomischen Aufwand letztlich nicht rechtfertigt. Die für telemedizinische Angebote zur Verfügung gestellten Ressourcen würden dann an anderen Stellen im Gesundheitswesen fehlen, wo sie möglicherweise einen größeren Nutzen stiften könnten. Grundsätzlich nachvollziehbar ist also, dass je höher das ökonomische Risiko für die Solidargemeinschaft ist, desto gründlicher die Verfahren bzw. Produkte evaluiert werden sollten. Aber auch umgekehrt: Je marginaler die möglichen ökonomischen Risiken sind, desto moderater können die Investitionen für eine Evaluation ausfallen.
Telemedizinische Risiken dürfen also keineswegs ausgeblendet werden und die Veränderungen durch Telemedizin bedürfen einer intensiven Beobachtung, z. B. wie sich der Technikeinsatz letztlich auf das Arzt-Patienten-Verhältnis auswirkt. Zusammenfassend kann aber festgestellt werden, dass telemedizinische Leistungen zwar nicht komplett risikolos, aber tendenziell eher mit geringen Risiken für Patientinnen bzw. Patienten verbunden sind. Gegenwärtig führen jedoch übertriebene Anforderungen an die Nutzenbewertung dazu, dass notwendige Innovationen unterbleiben und das (deutsche) Gesundheitswesen den Anschluss verliert.
- Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) (Hrsg.) (2017) Verfahrensordnung in der Fassung vom 18. Dezember 2008, in Kraft getreten am 1. April 2009; zuletzt geändert am 20. Oktober 2016, in Kraft getreten am 20. Januar 2017. Online verfügbar unter
https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1331/VerfO_2016-10-20_iK-2017-01-20.pdf. Letzter Aufruf am 22.05.2017. ↩ - gematik (Hrsg.) (2015): Deutsches Telemedizinportal. Online verfügbar unter https://telemedizinportal.gematik.de/. Letzter Zugriff am 22.05.2017. ↩
- Marx, Gernot (2017): Telemedizinisches, intersektorales Netzwerk als neue digitale Gesundheitsstruktur zur messbaren Verbesserung der wohnortnahen Versorgung: TELnet@NRW. In: Amelung, Volker, Eble, Susanne et al. (Hrsg.) (2017): Innovationsfonds-Impulse für das deutsche Gesundheitssystem. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin ↩
- Pelleter, Jörg (2013): Grundlagen der Telemedizin. In: Schultz, Carsten, Helms, Thomas (Hrsg.) (2013): Telemedizin – Wege zum Erfolg. Kohlhammer, Stuttgart. ↩
- Bundesärztekammer (Hrsg.) (2015): Ärztliche Priorisierung von Einsatzgebieten telemedizinischer Patientenversorgung. Online verfügbar unter http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Telemedizin_Telematik/Telemedizin/ ↩
- Stiftung Gesundheit (Hrsg.) (2014): Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit 2014 – Eine deutschlandweite Befragung niedergelassener Ärzte. Online verfügbar unter https://www.stiftung-gesundheit.de/pdf/studien/Aerzte_im_Zukunftsmarkt_Gesundheit_2014_Kurzfassung.pdf. Letzter Aufruf am 19.05.2017. ↩
- Schmidt, Silke, Koch, Uwe (2003): Telemedizin aus medizinpsychologischer Perspektive – Der Einfluss von Telematikanwendungen auf die Arzt-Patientenbeziehung. Z Med Psychol12 (2003), 1–13. ↩
- Gerlof, Hauke (2013): Eidgenossen machen Telemedizin zum Geschäft. Online verfügbar unter http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/e-health/telemedizin/article/838481/sprechstunde-
telefon-eidgenossen-machen-telemedizin-geschaeft.html. Letzter Aufruf am 21.05.2017. ↩ - Relevant sind hier aktuell noch u.a. §203 StGB, das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), die Landesdatenschutzgesetze sowie die Musterberufsordnung der Ärzte. Mit der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) werden Aspekte des Datenschutzes in den EU-Mitgliedsländern harmonisiert. Sie wird ab Mai 2018 die Grundlage auch des deutschen Datenschutzes sein. Vgl. European Commission (Hrsg.) (2016): Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundversorgung). Online verfügbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32016R0679&from=de. Letzter Aufruf am 30.03.2017 ↩
- Bundesärztekammer, Kassenärztliche Vereinigung (Hrsg.) (2008): Bekanntmachungen: Technische Anlage – Empfehlungen zur ärztlichen Schweigepflicht, Datenschutz und Datenverarbeitung in der Arztpraxis. Deutsches Ärzteblatt Jg. 105 Heft 19, 9. Mai 2008 ↩